Verqueerte Welt: geoutet bisexuell.
Was ich lange spürte, aber erst später realisierte.
Ich bin jetzt 31 Jahre alt und bezeichne mich seit circa zehn Jahren offiziell als bisexuell. Ich date gleichermaßen Frauen und Männer. Zuvor hatte ich auf die Frage nach meiner sexuellen Orientierung noch geantwortet, ich sei heterosexuell, zumal ich romantische Beziehungen lediglich mit Vertretern des männlichen Geschlechts geführt hatte. Außerdem wuchs ich in den Neunzigern in einem sehr stark heteronormativ geprägten Umfeld auf, wo selbst Homosexualität als exotisch galt und es kaum Vorbilder gab. Die Rede ist von einer ländlich gelegenen Kleinstadt im Oberbergischen.
Bisexualität, den Begriff kannte ich zugegebenermaßen lange Zeit nicht einmal. Dabei waren die Anzeichen dafür, dass ich mich nicht bloß für das männliche Geschlecht interessierte, unübersehbar. Meinen ersten Kuss hatte ich mit meiner damals besten Freundin erlebt und auf Feten knutschte ich am Ende des Abends ebenso oft mit Frauen wie mit Männern. Allerdings war in diesen Momenten meistens Alkohol im Spiel und grölende Klassenkameraden oder andere männlich gelesene Personen als Zuschauer im Hintergrund. Eins war klar, unser Techtelmechtel diente in erster Linie zur allgemeinen Belustigung. Oder besser gesagt: Erregung, denn wir wurden sexualisiert. Niemand machte einen Hehl daraus, denn schließlich war es vollkommen okay, wenn zwei Frauen Zärtlichkeiten austauschten. Auf den einschlägigen gratis Porno-Börsen war dieses Bild nun mal auch Gang und gäbe. Am nächsten Tag, nüchtern, sprach meistens keiner mehr darüber – ich auch nicht.
Meine jungen Jahre sind geprägt davon, wie ich immer wieder Schwierigkeiten hatte, tiefgründige Freundinnenschaften zu führen. „Aber warum?“, fragte ich mich ständig. Gefühle der Eifersucht und Zuneigung, die ich damals noch nicht einzuordnen wusste, machten sich in mir breit. Wenn es mit meinen männlichen Bekanntschaften zu Herausforderungen kam, war meistens schnell klar, dass sich eine: r von beiden verliebt hatte. Aber das konnte doch nicht bei mir und meinen Freundinnen der Fall gewesen sein, oder etwa doch? Bisher war das höchste der Gefühle schließlich gewesen, dass ich eine Nacht, leider wieder recht betrunken, mit einer guten Freundin knutschend und fummelnd bei mir im Bett landete. Wirklich darüber gesprochen haben wir aber nie, es ist einfach passiert. Schade eigentlich.
Rückblickend verstehe ich, was da damals los war. Vielleicht war ich in die ein oder andere beste Freundin zeitweise ein wenig verschossen und konnte es mir nicht eingestehen. Erst Jahre später, als ich fürs Studium auszog und die Kleinstadt verließ sowie immer wieder mehrere Monate im Ausland verbrachte und viele Menschen kennenlernte, begann ich zu verstehen. Auf einmal gab es diverse Vorbilder; Lebens- und Beziehungsmodelle, die ich bis dato nicht kannte und ich fing an zu begreifen, dass meine Realität bisher nur ein kleiner Einblick in das gewesen war, was eigentlich möglich ist.
Es wirkte wie ein Befreiungsschlag, denn ich entdeckte Seiten an mir, die ich zuvor scheinbar unbewusst unterdrückt hatte. Ja, unbewusst, denn mir war jahrelang nicht bewusst, dass es eben mehr gibt als hetero- oder homosexuell zu sein. Endlich verstand ich, dass ich mich durchaus zu mehr als nur einem Geschlecht hingezogen fühlen kann – nämlich zu Menschen, egal ob Vulva- oder Penisträger: Innen. Diese Erkenntnis feierte ich sehr, denn sie bot so viel neue Möglichkeiten und meine Neugier stieg ins Unermessliche.
Zugegeben, anfangs war ich sehr schüchtern, was das gleichgeschlechtliche Dating betraf. Ich datete damals zuerst eine lesbische Frau, mit der ich mein erstes Mal haben sollte. Mein erstes Mal mit einer weiblich gelesenen Person und das auch noch nüchtern. Ich war aufgeregt, aber in erster Linie erregt. So fühlte sich das also an. Ich wollte mehr davon und datete fortan noch andere Frauen, die sich entweder als lesbisch oder ebenfalls bisexuell geoutet hatten.
Aber mit der Neugier folgten auch neue Herausforderungen, mit denen ich zuvor nicht unbedingt gerechnet hatte: Vorurteile und Diskriminierungen. Natürlich, es war vielleicht ein wenig naiv von mir zu glauben, dass nicht-hetero sein ein Kinderspiel ist. Im Gegenteil! Ich sollte erneut einen Zugehörigkeits-Konflikt verspüren, denn fortan wurde ich mit Fragen und Aussagen bombardiert, die mich das ein oder andere Mal in die Bredouille brachten, mich rechtfertigen zu müssen.
Klischees und Vorurteile, wie mich nur nicht entscheiden zu können; nach Aufmerksamkeit zu gieren; sexsüchtig zu sein und somit nicht die beste Entscheidung bei der Partner:innen-Wahl, bekam ich immer wieder zu hören und das kränkte mich. Wer will schon mit jemanden zusammen sein, der: die sich zu mehr als einem Geschlecht hingezogen fühlt? Das würde doppelte Gefahr von außen bedeuten. Bis mir klar wurde, dass diese Aussagen mehr über den: der Sender: in und seiner: ihrer Angst verlassen zu werden aussagt, vergingen wieder ein paar Jahre. Jahre, in denen ich mich erneut wenig ernstgenommen, aber vor allem, nicht zugehörig fühlte.
Lesbische cis-Frauen wollten mich nicht daten, weil ich bestimmt irgendwann wieder „mit dem Feind ins Bett steigen würde“ und eigentlich nur eine abenteuerlustige heteroflexible Person bin. Heterosexuelle cis-Männer degradierten mich zum Sexobjekt 2.0 und potenzielle Anwärterin für ihre Dreier-Fantasien. Meine Eltern nahmen die Information auf, aber gefühlt nicht an. Sie fragten mich höchstens nach meinen männlichen Spielgefährten, oder ob es einen neuen Mann in meinem Leben geben würde. In ihrer konservativ geprägten Lebensrealität ist die Beziehung zu einer Frau, geschweige denn Ehe oder sogar Familiengründung mit zwei weiblichen Elternteilen noch unvorstellbar. Wie gesagt: es fehl(t)en die Vorbilder.
Also begann ich erneut mich dafür zu rechtfertigen, wie ich liebte und lebte. Ein zehrendes Gefühl, dass mir in manchen Momenten wirklich den letzten Nerv raubte. Mich wunderte es daher auch nicht, als ich bei meinen Recherchen immer wieder auf Statistiken stieß, die zeigten, dass bisexuelle Menschen besonders häufig unter Depressionen und Suchtkrankheiten litten und ein erhöhtes Risiko für Suizid aufwiesen. Dennoch war ich geschockt und fasste einen Plan, wenn auch zuerst eher unbewusst, aber das Gefühl ein Sprachrohr für das kleine „b“ innerhalb der LGBTQ-Community werden zu wollen, manifestierte sich immer mehr.
Also schrieb ich alles auf. Meine Gedanken, Erfahrungen, die Ergebnisse meiner Recherchen und Geschichten, die mir andere bisexuelle Menschen erzählten… ich schrieb Blogbeiträge und online-Zeitungsartikel, die nach und nach auf mehr und mehr Gehör stießen. Das alles half mir sehr – und anderen auch. Immer mehr Nachrichten erreichten mich und das Gefühl mich rechtfertigen zu müssen oder mich nicht zugehörig zu fühlen, verschwand nach und nach.
Auch wenn bisexuell sein, lange Zeit eine Herausforderung für mich war, so ist es jetzt nur noch eins: ein Geschenk. Das Geschenk auf alle Geschlechter zu stehen und allein dadurch ein breiteres Spektrum von Diversität zu (er-)leben.
Ich verstecke mich nicht mehr, ich hinterfrage mich nicht mehr, ich bin stolz bisexuell zu sein – und somit auch resistent gegen veraltete Klischees und lächerliche Vorurteile. Ich verliebe mich in Menschen, nicht in Geschlechtsteile.
Ich passe eben nicht in (d)eine Schublade. Deal with it.