Nadine Primo

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Achtsam aufs Ego zentriert.

Immer wieder frage ich mich, wann der Moment erreicht ist, an dem das Ego endgültig gebrochen und Entspannung – zumindest im Kopf – eintritt. Das Ego ist angeblich für den meisten Stress, den wir uns machen, verantwortlich. Wir vergleichen uns, wir sind unsicher - oder zu sicher, wir werten, entwerten, werten auf… Achtsamkeit soll uns daher lehren, die Dinge wahrzunehmen, aber eben nicht zu werten; die Gedanken beobachten, ohne sie dabei Einfluss auf unsere Emotionen nehmen zu lassen.

Eine schöne Vorstellung!

Zugegeben, meine Gedankenkarusselle sind oftmals egozentriert und verraten mehr über meine Ängste und Unsicherheiten als ich es mir vielleicht eingestehen möchte. Social Media haut unermüdlich, besser gesagt: unerbittlich, in diese Kerbe. Digitale Selbstdarstellung in Bilder- und Videoformat. Next Level: REELS.

Auf Instagram erfahren wir alles über Yoga.

Nicht unbedingt über die Lehre, die dahintersteckt, sondern die westliche Auffassung. Schlanke, junge Mädels in sexy Yogapants, gesponsert und gegen Reichweite und Rabattcoupon an den Mann oder die Frau gebracht. Teure Retreats, die eine Auszeit in Form von Detox, Entspannung und anschließendem Seelenheil versprechen – und das alles an nur einem Wochenende, in nicht einmal drei Tagen. Der Preis für diese kurze Auszeit sorgt bei mir jedes Mal für das Gegenteil von Entspannung.

Zugegeben, 420€ für 2 Nächte in deutschen Wäldern oder Dörfern: hui! Fraglich, wie da die Entspannung und Flucht aus dem Alltag entstehen soll. Oder anders formuliert: entsteht bei dem Preis nicht ein unglaublicher Druck sich entspannen zu müssen?

Paradox, wenn man bedenkt, wie viel Yoga & Meditation doch mit der buddhistischen Lehre zu tun hat und die beruht, wie die meisten von uns wissen, eher auf Askese als auf Konsum. In den Wäldern sitzen und schweigen ist in der Regel umsonst. Yoga ist ein Sport, für den es eigentlich keiner teuren Ausstattung bedarf. Ganz im Gegensatz zu anderen Sportarten wie Ski fahren, Segeln oder Golf.

We are all one… in this exclusive circle.

Wieso warten dann gerade diese Entspannungs-Retreats mit solch extremen Preisen auf und sind somit bereits zu Beginn mehr als exklusiv? Ich kenne nur wenige, die sich das leisten können – oder wollen. Es handelt sich demnach um einen exklusiven Zirkel, dessen Zutritt sich eben nicht jede:r leisten kann. Der Nachsatz sollte vielleicht an einigen Stellen eingefügt werden. Als besonders divers empfinde ich die Werbung nicht – im Gegenteil. Viele strahlende westliche Gesichter, Andersartigkeit wird höchstens in Form von Tempelbildern oder betenden Mönchen illustriert.

Sind diese Retreats somit nicht viel mehr als kommerzialisierte Entspannung, die Antwort auf den Selbstoptimierungsdrang, den Social Media uns tagtäglich ohne Gnade vor Augen führt?

Spiritualität auf Abwegen.

Zugegeben, zuletzt habe ich einen Artikel gelesen, der mein Meinungsbild nachhaltig verfestigt hat. Der Autor schrieb über die Parallelen von Narzissmus und der Achtsamkeitsbewegung. Während Yoga und Meditation eigentlich dazu dienen sollten, das Ego zum Schweigen zu bringen, so ist oftmals das Gegenteil der Fall: Das Ego wird aufgebauscht. Zumindest was die westliche Zweckentfremdung der Yogi-Lehre betrifft: Wieso sonst präsentieren sich viele in Yoga-Posen und laden Videos inkl. perfekt vorbereiteter Kulisse in ihren Stories hoch? Soll das zur allgemeinen Entspannung beitragen? Ich denke nicht.

Bereits vor zwei Jahren hatte ich meine Beobachtungen niedergeschrieben und die „ausufernde Achtsamkeit“ angeprangert.

Die Kernaussage sollte folgende sein:

„[…] natürlich ist es wichtig, Grenzen zu setzen. Allerdings frage ich mich, welche Ängste bzw. wie viel Genervtheit hier eigentlich wirklich hinter stecken. Diese Aussprüche mit Achtsamkeit und Selbstliebe, wohl eher Selbstschutz, zu begründen, wirkt auf mich völlig verklärt. Man kann Menschen auch helfen oder zuhören, ohne dabei seine eigenen Ressourcen aufs Spiel zu setzen, zumal Achtsamkeit eben auch bedeutet, nicht zu werten und nicht alles auf sich zu beziehen. Demnach sollte der Struggle der anderen eigentlich kein Problem darstellen. Yoga ist großartig, Meditation auch. Bei sich selbst (angekommen) sein und im Moment leben erst recht (wenn es denn funktioniert), aber dazu gehören eben auch negative Aspekte wie Leid und Kummer. Sorgen braucht keiner, hat aber jede/r ab und an. Schön ist es doch, gerade in solchen Momenten zu wissen, dass man nicht allein dasteht. Verständnis ist Sex für die Seele. Isso! Achtsamkeit hat in meinen Augen auch etwas mit Aufmerksamkeit zu tun, und die wirkt auf das Gegenüber meist wie Wertschätzung und Anerkennung. Streben wir danach nicht letztlich alle?“ (erschienen in: im Gegenteil - Ausufernde Achtsamkeit: zu viel Selbstliebe oder bereits Selbstschutz?)

Einige von euch werden sich jetzt sicher fragen, was ich damit eigentlich bezwecken will, mit dieser – gefühlt – persönlichen Abrechnung mit der Achtsamkeitsbewegung. Zugegeben, ich war vor einigen Jahr selbst Riesenfan. Mein Selbstfindungstrip führte mich nach Sri Lanka ins Schweigekloster und während ich mit meinem Rucksack wochenlang über die Insel reiste, fühlte ich mich erhaben. Erhaben meinem Umfeld gegenüber, das zu der Zeit im kalten, verregneten Deutschland hockte und sich mit mal mehr, mal weniger spannenden Jobs rumschlug.

So wie die meisten Hostel-Touristen zelebrierte ich das Nichts-Haben, weder Besitz noch Verpflichtungen, und sprach immer nur von meiner Reise – zu mir selbst. Langweilig, aber vor allem: wenig individuell. Nachdem ich mal wieder länger allein mit Rucksack unterwegs war, traf ich denselben Schlag Mensch, wie ich es damals gewesen war: Mitte Zwanzig, fertig mit dem Studium, rast- und ratlos zugleich, auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach Abenteuer.

Dass das jedoch nicht das reale Leben, zumindest nicht meine Lebensrealität ist, sollte ich schnell feststellen. Auch, wenn ich die Zeit sehr genoss, so merkte ich auch schnell, dass ich nun mal ein Stadtmensch bin und es liebe nahe am Geschehen zu sein. Ich würde es fast eher als eine Hassliebe bezeichnen, denn die Hektik der Stadt macht mich ebenso fertig, wie sie mir Inspiration und Energie schenkt. Sätze wie „die Gesellschaft vermittelt dir das Bild, dass du das brauchst…“ machten mich fortan fuchsig, denn sie haben einen unterwürfigen Charakter. Sie werfen mir indirekt vor, eine Sklavin von etwas zu sein. Das bin ich aber nicht. Die Gesellschaft hat meiner Meinung nach nicht nur Fesseln und Verpflichtungen zu bieten, sondern eben auch Schutz und Gemeinschaft.

Wir leben alle in einem gesellschaftlichen System.

Egal, ob asiatisch, westlich, post-industriell… wie auch immer. Aber wir leben nun mal in einem System. Der Mensch ist ein Herdentier und ohne menschlichen (oder tierischen) Kontakt würden wir eingehen wie eine Primel – wir würden sterben. Da kann Mensch sich gegen wehren, oder es einfach akzeptieren und die eigene Unangepasstheit weniger als Erhabenheit sehen, sondern hier drin die eigene Schwäche bzw. Unangepasstheit erkennen. Völlig okay. Den einsamen Wolf zu mimen, verrät in vielen Fällen mehr über die eigenen Herausforderungen, uns anderen Menschen gegenüber zu öffnen, als die Fähigkeit für sich allein einzustehen und – zumindest emotional – autark zu leben.

„Achtsamkeit soll uns von Stress und Leiden befreien, fördert aber diese, laut Purser, indem sie die Ursachen für das Unwohlsein in unseren Köpfen verankert. Demnach sind nicht die äußeren Bedingungen schuld an meinem Stress, sondern ich. Die Ursachen für den Stress werden nicht infrage gestellt, sondern das Anpassungsvermögen des Individuums. Das Leiden wird dadurch dekontextualisiert oder als vollendete Tatsache anerkannt, was eine Scheuklappenmentalität verursacht, die die wahren Probleme außer Acht lässt. Das Ich wird gleichzeitig zum Sündenbock und zur eigenen Rettung. […] „Feel – don’t think“, ist das Mantra der Erleuchteten, die […] die gesellschaftlichen Schieflagen akzeptieren. Es ist ein Rückzug in private Lösungsansätze angesichts steigender kollektiver Probleme. […] Die Achtsamkeitslehre fügt sich dadurch perfekt in die heutige Ich-Fixiertheit ein, die den Lebenskodex vieler beherrscht. […] Der Fokus auf das Selbst, schreibt Purser, sei die Auslebung des neoliberalen Individualismusmantra, das Verantwortung auf den Einzelnen schiebt und das Gesellschaftsgefühl untergräbt. Die Achtsamkeitslehre predigt, wie der Neoliberalismus, dass gesellschaftliches Umdenken erst beim Individuum stattfinden muss, aber sie raubt ihm die nötigen Emotionen, um dieses voranzutreiben. Ärger oder Wut haben keinen Platz mehr, sie gehören nicht zur mentalen Hygiene. Doch ein sediertes Bewusstsein, das nur noch um sich selbst kreist, leitet keinen Wandel ein.“ (Quelle)

Empathisch geht anders, Miteinandersein auch!

Mir ist daher zuletzt folgender Satz in den Kopf gekommen: modernes hipster-Hippietum ist oftmals nicht viel mehr als Egozentrik in Jesuslatschen. Was ich damit meine? Nun ja, das ganze „Ich, ich, ich“ und Abschotten von „den anderen und ihren Problemen“ hat mehr mit Selbstschutz als Selbstliebe, geschweige denn Nächstenliebe, zu tun. Die eigene Erleuchtung vor sich herzutragen und anderen als Rat „mehr awareness und den Blick nach innen zu richten“ mitzugeben, ist erst einmal einfach und führt auch bestimmt zu wenig Rückfragen oder wiederholten Konsultierungen.

Warum? Weil es so klingt, als seien die eigenen Probleme hausgemacht und der-/diejenige lediglich zu „vernebelt“, um das zu erkennen und dagegen anzugehen. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, ist ein beliebter Satz in der Achtsamkeitsbewegung - und ein absolutes (politisches) No-Go bzw. eine realitätsverklärende Anmaßung - im gesellschaftlichen Kontext. Denk(t) mal drüber nach!